Jeder Tag, den ich hier in Neuseeland erlebe, ist wie eine kleine Geschichte in einem riesigen Märchenbuch. Und nicht nur ich schreibe sie, sondern auch die Menschen um mich herum.
Jede Geschichte hat eine Art Moral.
Die erste war: du bist niemals allein. Da ist immer jemand, der dir ein Freund ist.
Die zweite war: Neuseeländer isolieren ihre Häuser schlechter als deutsche Obdachlose ihre Schlafsäcke. Dafür haben sie aber wenigstens viele Heizdecken.
Die Geschichte, die ich dieses Mal erzählen kann, lehrt mich eine Menge. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Vielleicht am Anfang ^^
Es begann bei Sarah, unserer Arbeitgeberin. Fleißig, wie wir waren, brachten wir ihre Küche und auch den Rest des Hauses zum Blitzen. Und von einem Job stürzten wir schon in den nächsten, als Sarahs Freundin Trish daran interessiert war, uns aufzunehmen und uns für sie putzen zu lassen, so wie wir es bei Sarah getan hatten. Natürlich sagten wir zu. Das bedeutete weitere Tage im schönen Taupo und vor allem: einen weiteren Job, eine Unterkunft und Verpflegung. Erst danach eröffnete uns Sarah einzelne Details.
"Ihr müsst wissen: Trish sammelt gern unheimlich viele Sachen. Und vor allem Kerzenständer!"
Oder
"Bereitet euch schonmal darauf vor, dass es bei Trish kälter ist als bei mir. Es ist quasi eisig."
Oder
"Trish hat ein riesengroßes Haus und einen riesengroßen Garten, ihr habt also viel zu tun. "
Oder
Trish ist eine großartige Köchin."
Ihr könnt euch vorstellen, wie wir in Panik gerieten. Noch mehr Unordnung. Noch kälteres Haus. Noch mehr Essen. Oh. Mein. Gott. Als wir Trish dann kennen lernten, waren wir ehrlich gesagt noch ein bisschen unsicherer. Sie hat einen extremen neuseeländischen Akzent (zb. "egg", was auf Deutsch "Ei" bedeutet, spricht sie aus wie "eeeeeegg") und hört nicht sonderlich gut.
Als sie uns am Donnerstag dann abholte, schockierte sie uns noch mehr. Sie wollte uns extralange Gummihandschuhe kaufen, da sie einen Teich habe, der gereinigt werden müsse. "Also an eurer Stelle würde ich da nicht mit bloßen Händen rein fassen. Ach ja und ich muss unbedingt noch Mottenkugeln kaufen, für mein Haus."
Ich bekam das dringende Bedürfnis, schleunigst aus dem Auto zu steigen und schreiend wegzurennen.
Als wir dann in das Haus kamen, war ich allerdings positiv überrascht. Es war zwar vollgestellt bis oben hin - tausend Maoriskulpturen, Kerzenständer und vor allem Millionen (nein, ich übertreibe nicht: MILLIONEN) Essenszeitschriften -, aber es war groß und unheimlich schön. In einem alten, rustilaken Stil, mit vielen Fenstern, vielen Räumen und vielen Ecken, die man putzen konnte.
Manchmal trügt der erste Eindruck. Denn auch Trish selbst, so stellte sich heraus, hatte ich völlig falsch eingeschätzt.
Sie ist eine Frau, die sehr herzlich ist. Gern viel lacht. Gern kocht. Und sich gern um Menschen bemüht. Wer kann da ahnen, dass sie so eine traurige Vergangenheit hinter sich hat?
Ihr Vater starb an Krebs. Ihr Bruder verunglückte bei dem einzigen Flugzeugabsturz in der neuseeländischen Geschichte. Ihr Mann starb an Krebs. Ihr Schwager wurde erschossen. Ihre Tochter überlebte Krebs. Ihre Mutter hat erst kürzlich ihre Chemotherapie begonnen.
Als ihr Mann vor sechs Jahren starb, fiel sie in ein tiefes Loch und hatte keine Kraft, sich um das Haus oder ihr eigenes Wohlbefinden zu kümmern. Jetzt, nach sechs Jahren, wollte sie alles mit unserer Hilfe aufarbeiten. Sachen (aus)sortieren, Räume putzen, und und und.
Trifft man eine Person wie Trish zum ersten Mal, so ahnt man nicht, was sie alles durchmachen musste. Weiß man ihrer Geschichte, so fängt man an, sie zu bewundern. Dass sie nach all dem noch lachen kann, noch so mütterlich für andere sorgen, noch allein in so einem riesigen Haus leben kann.
Man lernt, dass das Leben nichts Selbstverständliches ist. Dass es für jeden einmal vorbei geht. Manchmal auch leider viel zu früh. Niemand wird davor bewahrt. Und manche Menschen bleiben fast ganz allein zurück. Zu welchem Menschen wird man unter solchen Umständen? Zu einem mit Depressionen? Mit keinen Aussichten auf künftige Freude oder Glück? Solche Menschen gibt es bestimmt. Aber Trish gehört nicht zu ihnen. Und ich fühle mich geehrt, wenn sie meint, dass wir diejenigen sind, die ihr die Kraft geben, ihr Leben - und ihr Haus - in die Hand zu nehmen. Oder wenn sie Freunde zu sich einlädt und ihnen stolz die Räume zeigt, die wir bisher gereinigt haben. Oder wenn sie herzlich lächelnd meint: "Ich spiele heute Lotto. Und wenn ich gewinne, stelle ich euch gegen Bezahlung ein und lass euch nicht mehr gehen. Ihr seid meine Engel."
Ich kann diese Frau nur bewundern. Denn sie har mir zwei Dinge beigebracht:
Das Schicksal kann einem jeden geliebten Menschen nehmen, den man um sich hat.
Aber das Leben kann danach weiter gehen, wenn man sich selbst nicht aufgibt.
Trish hat zwei Bäder. Eines oben, eines unten. Un dem Bad unten in einem Regal an der Wand befinden sich zahlreiche winzige Maoribücher. Dazwischen entdeckte ich eines von ihr an ihren mittlerweile verstorbenen Mann, das sie ihm vor einigen Jahren zum Hochzeitstag geschenkt haben musste. Es hieß: Grow old with me.
Werde alt mit mir.
Leider hatten beide nicht die Gelegenheit, das in die Tat umzusetzen.
Es kann einem das Herz zerreißen.
Aber ich wünsche Trish, dass sie trotz ihres Verlustes glücklich ist. Dass sie vielleicht wieder einen Mann findet und dass sie die Chance bekommt, die ihre Verwandten nicht hatten: und zwar ihre Enkelkinder aufwachsen zu sehen. In ihrem Leben eine Rolle zu spielen.
Und alt zu werden.
Am Donnerstag müssen wir sie dann verlassen. Wir reisen nach Rotorua weiter. Hobbiton wartet auf uns... :)
Aber wir werden dafür sorgen, dass sie stets jemanden hat, der ihr im Haus hilft. Wir registrieren sie bei helpx.net, einer Internetseite, auf der man Backpacker findet, die für einen arbeiten und man ihnen im Gegenzug Unterkunft und Verpflegung gibt. Dann bekommt sie die Chance, nicht allein mit dem Haus dastehen zu müssen...
Das war meine Geschichte für heute.
Nächstes Mal habe uch vielleicht wieder eine neue zu erzählen.
Wir werden sehen :)
P.S. Sorry für einzelne Rechtschreibfehler. Schande über mein Haupt. Und danke für über 1200 Klicks!!! (Wobei ich mir nicht erklären kann, wie fast 200 Amerikaner an meinen Blog gekommen sind. Und ob sie Deutsch verstehen...mysteriös!)